Ein Land gerät an seine Grenzen
Während Europa und die USA den Super-GAU fürchten,
geht es für die Japaner vor allem um eines: die Bewältigung der
humanitären Katastrophe.
© Kazuhiro Nogi/AFP/Getty Images
Japanische Sicherheitskräfte patrouillieren in der Stadt Tagajo im Osten Japans
Schlamm, Trümmer, weggespülte Dörfer, möglicherweise Tausende Tote,
Überlebende ohne Nahrung und Wasser und dazu ein sich anbahnender
Super-GAU. Japan erlebt in diesen Tagen eine Katastrophe beispiellosen
Ausmaßes.
Premierminister Naoto Kan konnte in einer Fernsehansprache am
Sonntagabend japanischer Zeit seine Tränen nicht zurückhalten. "Dies
ist die schlimmste Katastrophe in Japan seit 1945." Die Krise damals
habe Japan überstanden, auch dieses Mal würde dies wieder gelingen,
appellierte er an die Bevölkerung und rief zum Zusammenhalt auf.
"Lassen Sie uns wieder ein Japan herstellen, in dem Frieden herrscht."
Um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen
war Kan früh morgens am Tag nach dem Beben in einen Helikopter nach
Tohoku und zum zerstörten Kernkraftwerk in Fukushima
geflogen. Der Regierung scheint es vor allem darum zu gehen, das Volk
zu beruhigen und Panik zu vermeiden. "Wir setzen alle Kräfte ein, die
wir haben, um jedes einzelne Menschenleben zu retten", sagte Kan in
seiner Fernsehansprache.
Durch seine Lage im pazifischen "Feuergürtel"
muss Japan zwar häufig mit Erdbeben und Tsunamis rechnen. Allerdings
hielten sich die Schäden bisher vergleichsweise in Grenzen, auch weil
sich das Land darauf eingestellt hat: Bauvorschriften für
erdbebensichere Häuser, Lautsprecher in den Städten, über die Warnungen
verbreitet werden können, Wellenbrecher und massive Tsunami-Schutztore
in den Häfen.
Doch das Beben mit der Stärke 9
auf der Richterskala und die zerstörerische Welle, die ihre Wucht über
den gesamten Pazifik bis nach Südamerika trug war ein Szenario, das
sich Katastrophenexperten so nicht vorgestellt hatten. In einem Land,
das stark von Plänen und Regeln geprägt ist, gibt es auch für solche
Fälle genau dies: Pläne. Aber eben nicht für dieses Ausmaß.
Bei einer Veranstaltung im Foreign
Correspondents Club kurz nach dem Regierungsantritt der Democratic
Party of Japan (DPJ) im Sommer 2000 bezweifelten einige Experten dass
die neue Regierung auf eine Erdbebenkatastrophe im Raum Tokyo
entsprechend vorbereitet sei. Einen Plan gab es nämlich nur für ein
Beben der Stärke 7.
"Warum machen Sie nicht einen Plan für ein
stärkeres Beben?", wollte damals ein Journalist wissen. Darauf ein fast
hilfloses Schulterzucken und eine ausweichende Antwort, dass bei einem
noch stärkeren Beben die Folgen unvorstellbar hoch wären.
Mit klaren Aussagen halten sich die Behörden
auch bei der gegenwärtigen Katastrophe zurück. Aus einer "Explosion"
wurde zum Beispiel ein "explosionsartiger Vorfall" – eine
Ausdrucksweise, die einen Teil der Bevölkerung beruhigt, einen anderen
erst recht gegen die Regierung – egal von welcher Partei – aufbringt.
Für die einen ist dies Vertuschung, für die anderen eine berechtigt
vorsichtige Formulierung, weil vielleicht noch zu wenig Informationen
vorliegen.
Kritiker bemängeln, dass viele Maßnahmen zu spät
kommen, eben weil es keine konkreten Angaben gibt. So wurde zum
Beispiel die Räumungszone um das Kernkraftwerk Fukushima-1, das im
Verdacht steht, vor der Kernschmelze zu stehen oder bereits davon betroffen zu sein, erst auf drei Kilometer begrenzt, dann schrittweise auf zehn und zwanzig. Warum so zögerlich, fragten sich einige.
Zurückhaltung und der Hang zu vagen Antworten
sind in Japan verbreitet. Für dieses Phänomen gibt es im Japanischen
mehrere Wörter, darunter das aus dem Englischen entlehnte "about". Klare
Aussagen werden ungern getroffen, die Verantwortung für solche
Aussagen möchte der Einzelne – allgemein gesprochen – ungern
übernehmen.
Japan AKW Fukushima auf einer größeren Karte anzeigen
Es gibt aber durchaus immer mehr Japaner, gerade
jüngere, die sich eine andere Rede- und Informationskultur wünschen.
Viele lassen die Massenmedien, die für sie nur Sprachrohr der Regierung
oder Propaganda sind, links liegen und orientieren sich an Messageboards
oder auf Internetseiten von freien Journalisten im Internet, zum
Beispiel auf der Seite von Iwakami Yasumi.
Tatsächlich ist die Informationspolitik von
Regierung, offiziellen Stellen und dem Atomkraftwerksbetreiber Tepco
bisher mehr als undurchsichtig. Erst wurde die Möglichkeit, dass
bereits die Kernschmelze eingesetzt habe, in Betracht gezogen, dann der
Rückzug: Laut offiziellen Stellen habe es sich um eine
Wasserstoffexplosion gehandelt durch Verbindung von Wasserstoff im
Innern mit dem Sauerstoff der Luft, die lediglich eine äußere Hülle des
Gebäudes gesprengt habe; Reaktor 1 sei unversehrt geblieben.
In anderen Berichten vorher hieß es, in dem
Gebäude sei überhaupt kein Reaktor, es handele sich nur um ein Gebäude
auf dem Gelände des Kernkraftwerks. Mittlerweile hat auch Reaktor 3
einen Zustand erreicht, der dem des ersten stark ähnelt. Vor allem die
Tatsache, dass die Brennstäbe bald mehrere Meter aus dem Wasser standen,
weil das Kühlwasser verdampft war, gab Anlass zur Sorge.
(Zitiert aus
http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/japan-atomkraft-debatte-sicherheit)
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